Botschaft des Patriarchen Kyrill von Moskau und ganz Russland
Zum 100. Jahrestag des mutigen Widerstands der Neumärtyrer und Bekenner anlässlich der Beschlagnahmung der Wertobjekte der russischen Kirche
Vielgeliebte Hierarchen im Herrn,
ehrwürdige Väter, Gott liebende Mönche und Monialen, liebe Brüder und Schwestern!
In diesen Tagen, in denen wir uns im Gebet erinnern an den mutigen Widerstand der Neumärtyrer und Bekenner der russischen Kirche, von dem unsere ehrwürdigen Vorgänger in den Zeiten furchtbarer Prüfungen uns berichten wollten, richte ich mich an Euch mit den Worten des apostolischen Grußes: Gnade sei mit euch und Friede in Fülle durch die Erkenntnis Gottes und Jesu, unseres Herrn! (2 Petr 1,2)
Vor hundert Jahren, während der Wirren der postrevolutionären Umbrüche, kam den Gegnern Gottes ein ihnen zuträglich erscheinender Vorwand sehr gelegen, um eine gewaltige antireligiöse Kampagne zu starten: Unter dem Vorwand, finanzielle Mittel sammeln zu wollen für die Wolga-Region und andere Gegenden des Landes, in denen eine Hungersnot herrschte, begann eine gewaltsame Enteignung der Kirchengüter, die einherging mit der Verfolgung des Klerus, der Mönche und der Laien. Schnell griffen Anarchie, Willkürherrschaft, Verhöhnung und Profanierung der Heiligtümer überall um sich.
Während härteste Verfolgungen stattfanden, richtete der hl. Tichon, Patriarch von ganz Russland, im Februar 1922 an alle treuen Gläubigen der russisch-orthodoxen Kirche eine besondere Botschaft, in der er von den aktiven Anstrengungen und Bemühungen der Kirche sprach, um der Hunger leidenden Bevölkerung beizustehen. Darüber hinaus ergingen Aufrufe an die jeweiligen Verantwortlichen der unterschiedlichen christlichen Konfessionen; um sowohl finanziell als auch materiell helfen zu können, wurde mit dem Segen des hl. Tichon ein eigenes Komitee innerhalb der Kirche ins Leben gerufen und Spendensammlungen konnten in allen Kirchengemeinden organisiert werden. Zusätzlich erlaubte der Patriarch aufgrund des Ausmaßes der Katastrophe, dass « für die Bedürfnisse der Hungernden kirchliche Schmuckstücke und wertvolle Gegenstände, die nicht für den liturgischen Gebrauch bestimmt sind, gespendet werden können ». Nicht in Betracht zu ziehen war für den Ersthierarchen einzig und allein, die Kirchengebäude « der heiligen Gefäße » zu berauben, « für die ein anderweitiger Gebrauch als der liturgische durch die Bestimmungen der ökumenischen Konzilien untersagt ist und der von ihnen als ein blasphemischer Akt bestraft wird » (Botschaft von Patriarch Tichon über die Hilfe für die Hungernden und die Beschlagnahmung der Wertobjekte der Kirche, 15./28. Februar 1922).
Allerdings wurden trotz der eindeutig zum Ausdruck gebrachten und begründeten Position von Patriarch Tichon die gewaltsamen Beschlagnahmungen fortgesetzt. Es genügt, sich die Ereignisse vom März 1922 in Schuja in Erinnerung zu rufen, um das wirkliche Verhältnis der neuen Machthaber zur Kirche zu begreifen. Die Menschenmenge, die sich zur Verteidigung der enteigneten Heiligtümer versammelt hatte, wurde Opfer von Maschinengewehrsalven. Die Verfolgung der Gläubigen fand leider mit diesem Verbrechen kein Ende.
Die Gegner Gottes verbargen überhaupt nicht, dass ihr oberstes Ziel endgültige und schnelle Unterdrückungsmaßnahmen gegen die russisch-orthodoxe Kirche waren. Und auch heute, hundert Jahre später, kann man nur mit Schaudern jene furchtbaren Zeilen der Direktive lesen: « Je mehr Vertreter der reaktionären Geistlichkeit … wir bei dieser Gelegenheit erschießen können, desto besser … damit sie mehrere Jahrzehnte lang nicht einmal wagen, an irgendeinen Widerstand zu denken ». Nicht ihre Sorge für das hungernde Volk trieb sie an, sondern die infernale Bosheit und der
Hass gegen die Kirche waren die Beweggründe der Gott zurückweisenden Erbauer des neuen Russland.
Während der Enteignungsmaßnahme der Wertobjekte der Kirche durch die Bolschewiken kam es allein im ersten Halbjahr des Jahres 1922 zu mehr als 1400 blutigen Zusammenstößen, die einhergingen mit Verhaftungen, Schauprozessen, Exekutionen, Gefangennahmen und Verbannungen. In diesen Verfolgungen und Leiden, erduldet für den Namen Christi, haben Tausende von Gläubigen ein Beispiel gegeben für einen starken Glauben und geistliche Standhaftigkeit, für Geduld und Mut; ihr Los war der Märtyrertod und sie erhielten den nie verwelkenden Kranz der Herrlichkeit (1 Petr 5,4). Jetzt stehen sie vor dem Thron des Allmächtigen und beten für die russische Kirche, für unser irdisches Vaterland, für alle Länder und Völker, die teilhaben an der orthodoxen Überlieferung.
Wenn wir nachdenken über die Ursachen der tragischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts, müssen wir feststellen: Alle Versuche, eine glänzende Zukunft ohne Gott aufzubauen, sind zum Scheitern verurteilt und können den Menschen daher nicht das so sehr ersehnte Glück und den Wohlstand bringen.
Und wirklich: Wenn nicht der Herr das Haus baut, mühen sich umsonst, die daran bauen. Wenn nicht der Herr die Stadt behütet, wacht umsonst, der sie behütet. (Ps 126(127),1). Man muss schon blind sein, um diese grundlegende Lektion des letzten Jahrhunderts nicht zu verstehen.
Wenn die Kirche sich an das Vergangene erinnert und ihren Heilsauftrag im Hier und Jetzt erfüllt, dann erwartet sie voller Ungeduld die herrliche Wiederkunft Christi, wenn nach den Worten der Heiligen Schrift Gott alles in allem (1 Kor 15,28) sein wird, wenn Er alle Tränen von ihren Augen abwischen wird: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen. (Offb 21,4)
Doch bis dahin wollen wir hier auf Erden in Demut mit Ausdauer in dem Wettkampf laufen, der vor uns liegt (Hebr 12,1), wir wollen danach streben, nach den Geboten des Evangeliums zu leben, innig zu beten und mit Ausdauer zu arbeiten, das Böse zu meiden und das Gute zu tun, dem Frieden nachzujagen (Ps 33(34),15), und eifrig bemüht sein, die Einheit des Geistes zu bewahren durch das Band des Friedens (Eph 4,3).
Der Gott der Geduld und des Trostes aber schenke euch, eines Sinnes untereinander zu sein, Christus Jesus gemäß, damit ihr Gott, den Vater unseres Herrn Jesus Christus, einmütig und mit einem Munde preist. (Röm 15,5-6). Amen.
+KYRILL
PATRIARCH VON MOSKAU UND GANZ RUSSLAND